Sonntag, 15. April 2012

Starke Erzählerstimmen: 


 »Ungelenk stapfte Fabius Grosser die Gangway von der Fähre herab. Dunstig nass und betörend grün und voller verwirrender Geräusche schwappte Pulaster über ihm zusammen. Mit dem ersten Windstoß netzte ihm Nieselregen das Gesicht. Die Luft, dick wie Algenbrühe, stank nach Fäulnis, Raketentreibstoff und verschmorten Pflanzen. Ringsum war das Erdreich von den Raketenstarts und -landungen aufgepflügt, in den Furchen stand brackiges Wasser, und von der Wand des grünen Urwalds schallte schnarrendes Gelächter herüber. Was für ein Empfang!«
 
 
Angela und Karlheinz Steinmüller in »Pulaster«
 
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»In mir sind tausend junge Männer, Charles. Sie drangen ein, sie gruben sich ein. Als sie sich zurückzogen, Charles, dachte ich, sie zögen sich zurück. Aber nein, nein, jetzt bin ich sicher, es gibt keinen einzigen, dessen herrlich vergifteter Dorn nicht in meinem Fleisch festsitzt, an irgendeiner Stelle. Gott, Gott, wie ich ihre Stachel, ihre Dornen liebte! Gott, wie ich es liebte, gehalten und geschunden zu werden. Ich glaubte, die Medizin von Zeit und Reisen würde vielleicht die Spuren der Hände zum Verschwinden bringen. Aber jetzt weiß ich, dass ich mit Fingerabdrücken übersät bin. Es gibt keinen Fleck meines Fleisches, Chuck, der nicht einer Handflächenabdruck-Kartei des FBI, einem ägyptischen Papyrus von Fingerstigmata gleicht. Ich bin von tausend reizenden Jungen durchbohrt worden und dachte, ich würde nicht bluten, aber, Gott, jetzt blute ich. Ich habe im ganzen Haus geblutet. Und meine Freunde, die Schuld und Gewissen leugneten, haben sich in einem heftigen unterirdischen Wogen von Fleisch hier durchgezwängt, sich gegenseitig mit Körper und Mund bearbeitet, auf die Fußböden geschwitzt und die Wände mit ihren Qualen beschossen und ihrem Herabsinken, jeder vom Kreuz des anderen aus. Das Haus wurde von Mördern erstürmt, Charlie: Jeder versuchte, die Einsamkeit des anderen mit seinem kurzen Schwert zu töten, keiner fand ein Ende, nur ein momentanes Stöhnen der Erholung. Ich glaube nicht, dass es in diesem Haus jemals einen glücklichen Menschen gegeben hat, Charles, das begreife ich jetzt. Oh, es sah alles so glücklich aus. Wenn man so viel Gelächter hört und so viel zu Trinken sieht und in jedem Bett menschliche Sandwiches findet, rosaweiße Bissen, auf denen man herumkauen kann, dann denkt man: Wie viel Freude! Wie glücklich-schön!«
 
Ray Bradbury in »Der Fluch des Neuen«

 
 
 
»Er wollte noch nicht weg; er konnte sich nicht trennen – und vielleicht für immer – von diesem Schiff, das auf eine so lange und gefahrvolle Reise ging, um beide stürmische Kaps herum; das Schiff, in dem etliche tausend seiner schwerverdienten Dollars steckten; das Schiff, auf dem als Kapitän sein alter Kamerad fuhr, ein Mann, fast so alt wie er selber, der nochmals ausfuhr, allen Schrecken des erbarmungslos klaffenden Rachens zu begegnen; nein, er wollte und konnte nicht Abschied nehmen von dem, was so randvoll war von allem, woran sein Herz hing – der arme alte Bildad zauderte lange, maß mit ziellos geschäftigen Schritten das Deck, lief hinunter in die Kajüte zu einem allerletzten Abschiedswort, kam zurück an Deck und schaute luvwärts, schaute über die weiten, endlosen Wasser, deren Grenzen, fern und unsichtbar, die östlichen Kontinente bilden; schaute landwärts, schaute aufwärts, schaute nach rechts und nach links, schaute überall und nirgends hin, und schließlich schoss er mechanisch eine Segelleine um ihren Belegnagel auf, fasste krampfhaft die Hand des dicken Peleg, und, eine Laterne hochhaltend, sah er ihm einen Augenblick heroisch ins Gesicht, als ob er sagen wollte: Nichts da, Freund Peleg, ich kann’s ertragen; jawohl, ich halte aus.«
Herman Melville in »Moby Dick«


 
 
 
 
 
»... und Angela lag unter ihm, ein hominider Asteroid, der weich und warm und sehnsuchtsvoll die Landung des terrestrischen Raumschiffes erwartete. Das schwere Keuchen des Sonnenwindes lag über dem All, der parsekweiten Finsternis, die nur durch das Glühen von Raumschiff und Landeplatz gemindert wurde. Robby senkte sich langsam, dirigierte die Planetenfähre, bis die zahllosen synaptischen Computer des Limbischen Systems keinen Zweifel mehr an der Richtigkeit des Rendezvous-Punktes besaßen und der letzte Düsenstoß das Raumschiff hineinführte in die Schleuse des Asteroiden, tiefer in den Landetunnel hinein, und die Reibungshitze ließ Trägerschiff und Asteroiden verschmelzen, so dass sie eins wurden, in Gestalt und in Gedanken, und sich hinaufschaukelten bis zu jenem Punkt, wo das Gitternetz des Kosmos zerriss und sich die Pforten zu einer höheren, unbegreiflichen Dimension öffneten, in dem es nichts gab, nichts, nur sie beide auf ihrem himmelhohen Flug über die Grenzen von Raum und Zeit ...«

aus: »Artefakt 5578« in »Nur keine Angst vor der Zukunft« von Thomas Ziegler



»Was für Abendessen es in unserem Haus gab!
Ach was, Abendessen – was für Frühstücke und Mittagsmahlzeiten!
Obwohl es immer etwas Neues gab, kam uns doch alles neu und vertraut vor. Wir wurden niemals gefragt, denn fragt man Kinder, was sie wollen, wissen sie nichts zu sagen, und wenn man ihnen ankündigt, was auf den Tisch kommt, lehnen sie es womöglich ab. Eltern kennen das. Es ist ein heimlicher Krieg, der jeden Tag neu gewonnen werden muss. Und Großmama verstand zu siegen, ohne im Geringsten zu triumphieren.
›Hier ist das geheimnisvolle Frühstück Nummer neun‹, sagte sie und stellte die Teller vor uns hin. ›Absolut ungenießbar, ich hätte mich am Herd fast übergeben!‹
Wir überlegten, wie einem Roboter wohl übel sein konnte, doch ließ sich unser Hunger kaum noch bezähmen.
›Das schreckliche Mittagessen Nummer siebenundsiebzig‹, verkündete sie. ›Aus Plastiksäcken, Petersilie und Kaugummi, den ich unter Kinositzen gefunden habe. Ihr müsst euch hinterher die Zähne putzen, sonst schmeckt ihr das Gift noch den ganzen Nachmittag.‹
Wir stritten uns um einen Nachschlag.«

aus: »Gesänge des Computers« in »Gesänge des Computers und andere Erzählungen« von Ray Bradbury
  
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„Wir fuhren auf der Viale del Muro. Ich betrachtete die Aurelianische Mauer mit dem Park der Villa Medici dahinter. Auf der anderen Straßenseite, der linken, tauchte zwischen Bäumen das Galoppatoio der Villa Borghese auf. So viel Grün!, dachte ich, und sogleich quälte mich die Banalität dieses Gedankens, hasse ich doch alles Ungefähre im Umgang mit der Natur, weil es stets der Unwissenheit entspringt. Ein Mann, der wusste, würde nie so viel Grün sagen, wenn er Bäume meinte, er würde Pinien sagen, Zypressen oder Eichen, Kastanien, Zedern oder Lebensbäume, und selbst das war schon ungenau genug, Laienwissen, durch dessen grobe Maschen das Differenzierte, das Wert und Wunder der Natur ausmachte, ins Seichte des um sich greifenden Naturbanausentums fiel. Schirmpinie und Scheinzypresse, Steineiche und Rosskastanie, Atlaszeder und Thuja, wenn sie es denn sind, halte ich für das Mindeste, das einer als Maß an sich anlegen lassen muss, der dazugehören will. Und der wirklich Wissende, der Genotyp und Phänotyp bedenkt, der das Besondere im Allgemeinen zu entdecken imstande ist und selbst das eng Verwandte noch scheiden kann, hat auch die wissenschaftlichen Namen parat und vermeidet ihren Gebrauch nur in Gesellschaft Unkundiger, um nicht elitär zu erscheinen. So viel Grün jedenfalls ist unverzeihlich, ist Naturbetrachtung zum Autofenster hinaus, und weniges verachte ich mehr.“

aus: „Klingt“ von Horst Stern

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